Von Dr. Harald Kimpel

Als 1987 die Pflanzung der 7000 Eichen als vorerst abgeschlossen gelten durfte, hatte sich die Maßnahme nicht nur im Stadtgebiet und – weitgehend – im Bewußtsein der Bevölkerung verankert, sondern auch in einer Struktur aus Kunstwerken, die als Hinterlassenschaften der documenta das Image Kassels als Kulturstadt wesentlich mitbegründen. Denn trotz ihrer Einmaligkeit in medialer und konzeptioneller Hinsicht steht die Stadtverwaldung von Joseph Beuys in Relation zu zwei weiteren künstlerischen Interventionen im öffentlichen Stadtraum: zu Walter De Marias "Vertikalem Erdkilometer" und Horst H. Baumanns "Laserscape Kassel" – beide realisiert zur documenta 6, 1977. Obwohl gänzlich konträre künstlerische Positionen, ästhetische Konzepte und materielle Realisierungen im Umgang mit städtischer Topographie und Geschichte, mit Zeit, Natur und Gesellschaft vertretend, sind diese drei ausgreifendsten Kunstinstallationen der Stadt durch ein komplexes Beziehungsgeflecht miteinander verbunden. In ihm gewinnt der individuelle Charakter jedes Werkes Kontur; gerade wegen ihrer Unvergleichlichkeit lässt der Vergleich die drei bedeutenden Kunstwerke in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden, ihren besonderen Aussagen und spezifischen Intentionen erkennbar werden.
In den zahllosen Kommentaren, denen Joseph Beuys’ Kommunalverwaldung ausgesetzt war und ist, werden die Eingriffe in den ökologischen, ökonomischen und administrativen Haushalt der Stadt zumeist isoliert oder aber im Rahmen des Gesamtwerks des Künstlers verhandelt. Hier nun der Vorschlag, die sozial erweiterte Plastik einmal im künstlerisch erweiterten Verhältnis zu benachbarten Installationen zu sehen – wobei sich zeigt, dass in den "7000 Eichen" die kontroversen ästhetischen Konzepte aufgehoben sind: Summe und Synthese der in den beiden anderen Werken angelegten Prinzipien.

senkrecht – waagerecht
Alle drei Werke entspringen einem gemeinsamen kulturellen Spannungsfeld im Stadtzentrum. Auf dem Friedrichsplatz, vor dem documenta-Stammhaus, verdichtet sich eine Energiezone, in der sie sich überlagern, bevor sie in alle Himmelsrichtungen auseinanderstreben und sich in Raum und Zeit verflüchtigen: Nullniveau der Bohrung, erste und letzte Pflanzung, alles zusammen überschnitten von den anfänglichen Metern der roten und grünen Strahlen aus dem Zwehrenturm. In ihrem weiteren Verlauf sind die drei Kunstwerke charakterisiert durch ihre unterschiedliche Orientierung gegenüber der Erdoberfläche. So vertritt der Vertikale Erdkilometer bereits mit seinem Titel das senkrechte Prinzip, das sich in einem einzigen Punkt zentriert, eine einzelne Stelle im Stadtgebiet markiert und mit Bedeutung auflädt: ortsdefinierend, zugleich ortsunabhängig, da an jedem Punkt der Stadt, des Globus denkbar. Im Gegensatz zu dieser einmaligen lotrechten Setzung, die in ihrer massiven Materialität der Schwerkraft unterliegt (und eines Tages möglicherweise von der Erdkugel verschluckt wird), entfaltet sich die Laserscape in Form einer ausgedehnten horizontalen Struktur, deren Arme schwerelos in den Raum greifen, über den Dächern gleichsam auf höherer Ebene herausragende historische Markierungen vernetzen und sich souverän über die Gegebenheiten des Stadtplans hinwegsetzen. Die Verwaldung aber hat an beiden Prinzipien Anteil. Statt introvertiert oder überhöht, gibt sie sich bodenständig.

Die Einheiten aus Bäumen und Steinen multiplizieren das waagerechte Raster der Bodenkontakte, indem sie sich unter Berücksichtigung der lokalen Besonderheiten an 7000 Standorten gleichzeitig manifestieren und dabei in städtische Gegenden vordringen, die nie zuvor eine kulturelle Nutzung erfahren haben. Und bereits in ihrer Urform war die soziale Plastik horizontal orientiert: Monatelang bildete der Keil der schlafenden, noch partnerlosen Steine jene dreieckige Basaltablagerung auf dem Friedrichsplatz, das waagerechte Ärgernis, dem nur durch vertikale Setzungen beizukommen war: durch Transformation der Fläche in Raum, durch Erweiterung der geometrischen Figur in die dritte Dimension. In ihrem jetzigen Stadium aber repräsentiert jede einzelne Dualität das Prinzip des Senk- und Aufrechten: die wache Ratio, die selbstbewusst und widerspenstig in der Welt steht, sich gegen die Schwerkraft der Verhältnisse behauptend. Erst nachdem die Stelen sich erhoben, als lastendes Liegen sich in aktive Teilnahme an städtischem Leben verwandelt hatte, konnte die Plastik als eine soziale wirksam werden; es bedurfte des Aufstands der Steine und ihrer Verbindung mit den ungleichen Partnern, um das Konzept zu vollenden.

offen – geschlossen
Alle drei Werke sind abgeschlossen und unabgeschlossen zugleich; ihr Entstehungsprozess ist beendet, doch fortwährend im Gang. Zwar ruht der Messingstab mit seiner exakt bemessenen Ausdehnung, mit seinen numerisch fixierten Größenverhältnissen in sich selbst, doch weist er als abstrakte Setzung von Maß und Zahl gegen die irrationalen Zufälligkeiten von umgebender Natur und Zivilisation weit über sich hinaus. Gerade seine intelligible Begrenztheit macht den Messingkilometer zum Paradigma; gerade von seiner schematischen Limitierung geht die Aufforderung zur imaginären Verlängerung in beide Richtungen aus. Was materialisiert vorliegt, ist nur ein reales Teilstück einer virtuellen Achse, ein Fragment, das die Komplettierung will: nach unten zum Mittelpunkt der Erde, nach oben ins Unendliche des Alls. (So gesehen ist auch der kunstwissenschaftliche Fauxpas entschuldigt, mit dem der Erdkilometer einmal als „herausragendes“ Kunstwerk bezeichnet wurde.)

Auch die Laserscape hält sich in Grenzen – und überschreitet sie imaginär. Wenngleich das Netzwerk auf die 1977 beschlossene Konfiguration festgelegt ist, so greift doch die Leuchtspur – wie jedes Kunstwerk – nur eine Variante aus einer Vielzahl von Optionen heraus; eingespannt zwischen topographisch und historisch eindeutig bestimmten Ausgangs-, Wende- und Endpunkten, impliziert die Lichtzeichnung mit der aufhaltsamen Gerichtetheit ihrer Strahlen die Frage nach weiteren potentiellen Verknüpfungspunkten – oder gar nach einer Expansion des Ortsnetzes jenseits der Säulen des Herkules. Wenn daher Walter De Maria mit seinem in sich gekehrten documenta-Werk das Angebot unterbreitet, mittels eines ästhetisch, ökologisch, sozial und kosmologisch fundierten Kunstwerks „die Menschen dazu an(zu)regen, über die Erde und ihren Ort im Universum nachzudenken“, gilt dasselbe auch für Horst H. Baumann.
Und es gilt für Joseph Beuys. Denn so, wie in den Konzeptionen von Erdkilometer und Laserscape ein Potenzial virtueller und realer Erweiterungen angelegt ist, findet sich dies auch in den 7000 Eichen. Obwohl die 1982 von Joseph Beuys der Stadt gestellte Aufgabe fünf Jahre später als erledigt angesehen werden konnte, zeigt sich das Verwaldungsprojekt unter verkehrstechnischen, biologischen, administrativen und atmosphärischen Zwängen noch immer in Bewegung und über den Zeitpunkt seines offiziellen Abschlusses hinaus offen. In dem Maße also, wie der städtische Organismus kontinuierlichen Strukturwandlungen unterworfen ist, ist es auch der darin eingebettete künstlerische Organismus. Doch gerade in dieser Flexibilität liegt seine Chance auf Dauer in einem auf Wandel angelegten Ambiente: nicht ein für allemal festgelegt zu sein, sondern reagieren und sich in der Veränderung der urbanen Lebenswelt mitverändern zu können. Eine dogmatische Festschreibung in einer ein für allemal beschlossenen Form widerspräche nicht nur dem Charakter des Werks, sondern würde zugleich sein Ende einleiten.

Mit ihrer Ambivalenz von Bodenständigkeit und Flexibilität ruht also die zur Kultur gewordene Natur zu gleichen Teilen innerhalb wie außerhalb des Evolutionsprozesses. Der Basalt: Die Immobilie, das so leicht nicht mehr veränderbare Endprodukt eines definitiv zum Stillstand gekommenen erdgeschichtlichen Prozesses, erstarrt in der Bewegung, der zu polygonaler Regelmäßigkeit erkaltete Lavastrom aus dem Erdinneren, versteinert beim Versuch der Gestaltfindung, ausgeklinkt aus dem Fluss der Zeit (bis auch er zerfällt und in eine neue Materialität übergeht) – und der Baum: Prinzip des Wachsens und Werdens, der Zeit und den Jahreszeiten unterworfen, in den Wandel der Natur eingebunden. Die Pflanzen haben aktiv am Leben und Sterben teil, während ihre älteren Begleiter bereits darüber hinaus sind.
Doch auch quantitativ ist die kommunale Begrünung auf Expansion angelegt; innerhalb wie außerhalb des Stadtgebiets sind Fortpflanzungsbemühungen im Gange. Die Beuys’sche Baumschule wuchert über ihren lokalen Entstehungshorizont hinaus; die 7000 – dem Zufall der 7. documenta geschuldet – sind nur ein Anfang; Kassel, Ort der documenta, ist nur ein Ort in einer weiter zu verwaldenden Welt. Denn überall dort, wo es Verwaltung gibt, hat die Verwaldung ihre Domäne. Indem Joseph Beuys der Kunst – und nur ihr – zutraut, die Welt zu retten, tendiert dieses Kunstwerk vom Lokalen zum Globalen, zu einer umfassenden Struktur, über die es – zunehmend formloser – schließlich in der Welt aufgeht.

sichtbar – unsichtbar
Allen drei Werke fehlt es an Standpunkten, von denen aus sie jeweils in ihrem Gesamtzusammenhang überschaubar wären; keines ist am Stück, jedes nur als Stück zu erfassen. Allenthalben bietet sich ein fragmentarischer Anblick, der es erforderlich macht, vom jeweils wahrnehmbaren Teilaspekt aufs Ganze zu schließen. Am radikalsten ist diese strukturelle Unsichtbarkeit, die Diskrepanz zwischen dem sichtbaren Abschnitt und dem verborgenen Rest, beim Erdkilometer vorgetrieben. Das in dem punktförmigen Mal gegebene Verhältnis von 5:100.000 wird weder von den Verzweigungen des Lichtnetzes noch den Auffächerungen des Pflanzrasters überboten. Alle drei Werke verlangen somit neben dem Hinsehen eine weitergehende Leistung: ihre Vervollständigung in der Phantasie.

Diese Differenz zwischen dem, was der Wahrnehmung zugänglich und verschlossen ist, zeigte sich bereits bei der Erstellung der Werke. Im Fall der Laserscape ging es bei Einrichtung der Lichtquellen und Justierung der Strahlen um technische Vorgänge hinter den Kulissen, für den ästhetischen Charakter des Werks ohne Belang. Schon anders bei Walter De Marias Erdwerk, dessen demonstrativer Arbeitsaufwand mit seiner störenden Geräuschproduktion (selbst als er sich hinter Schallschutzwänden den Blicken entzogen hatte) für die tatsächliche Existenz des später Unsichtbaren bürgen sollte. Nochmals anders liegen die Dinge bei den 7000 Eichen, deren langwierige, in aller Öffentlichkeit vonstatten gehende Entstehung sich zu einem durchgängig präsenten gesellschaftlichen Prozess mit unerlässlicher Bürgerbeteiligung entwickelte: nicht nur Voraussetzung, sondern Bestandteil der sozialen Plastik. Standortfindung, Mittelbeschaffung, auch die Herausbildung allmählicher Akzeptanz sind essentielle Komponenten des Werkes, keineswegs bloß Etappen seiner technischer Realisierung

wertvoll – wertfrei
Alle drei Werke sind signifikant bereits auf der Ebene ihrer Materialverwendung. Die Lichtvernetzung betont mit ihrer Übertragung einer innovativen, hauptsächlich in anderen – wissenschaftlichen und wirtschaftlichen – Zusammenhängen eingesetzten Technologie auf ein stadtgeschichtlich argumentierendes Kunstwerk die Unbelastetheit ihres Stoffs, die Freiheit des Konzepts von kunstgeschichtlichen Vorbildern und Konnotationen. Der Metallstab richtet sich nach der entgegengesetzten Seite: Messing, auf halbem Weg zur Bronze, dem traditionellen Würdestoff der bildenden Kunst, dem historisch tradierten Veredelungsmittel ästhetischer Intentionen, wird gezielt zum Einsatz gebracht, um den Akt der Rückerstattung von Werthaltigem an die ausgebeutete Erde glaubwürdig zu symbolisieren. Die Stadtbegrünung hingegen kombiniert einen allgemein gering geachteten (und daher im Kontext des Werks allzu leicht unterschätzten) Naturstoff mit dem belasteten Ideologiegehalt der mythischen Eiche, des deutschesten der Bäume, im begrifflichen Zusammenhang des ebenso mit nationalen Mythen überformten Ökosystems, des Waldes.

anfällig – unempfindlich
Alle drei Werke sind in unterschiedlichem Maß anfällig gegen Einflüsse aus der gesellschaftlichen Sphäre. Am unempfindlichsten selbstverständlich der Erdkilometer, der – in Grund und Boden versunken – keinerlei Unterhaltungsaufwand nötig hat, und dem – in sich selber ruhend – tiefgreifende Ereignisse an der Erdoberfläche, ja nicht einmal das Vergessen etwas anzuhaben vermögen, gehört es doch zu seinem Konzept, existent zu sein, auch ohne wahrgenommen zu werden: unberührbar, weitestgehend unabhängig von äußeren Ereignissen.
Sehr viel heikler dagegen Laserscape und Stadtverwaldung, die permanenten Pflegefälle. Insbesondere die visuelle Wirksamkeit des immateriellen Lichtwerks setzt einigen finanziellen und organisatorischen Aufwand voraus. Seine Präsenz ist abhängig von Energiezufuhr und dem Willen zum Werk: von der aktuellen Stimmungslage der Systembetreiber und der Adressaten. Dem flüchtigen Kunstprodukt eignet keine dauerhafte Existenz, sondern es muss immer wieder neu ins Leben gerufen werden; bedroht von technischen Defekten und Desinteresse, bedarf es des fortgesetzten Entschlusses zum Aufwand, um sein sporadisches Erscheinen am Kasseler Nachthimmel zu garantieren.
Während sich also der Erdkilometer verbirgt und die Laserscape rar macht, ist das duale System aus Holz und Basalt durchgängig der lokalen Wetterlage ausgesetzt: in seinem steinernen Anteil scheinbar unangefochten, ungerührt, unbetroffen von den Unwägbarkeiten der urbanen Umstände, um so empfindlicher in seinen lebendigen Teilen: gegenüber Umwelteinflüssen und sachlich (zum Beispiel verkehrstechnisch) begründeten Standortaufhebungsbestrebungen ebenso wie gegenüber materiellen und verbalen Vandalismen.
In dem Maß also, wie die 7000 Manifestationen radikal in öffentliche Angelegenheiten eingreifen, sind sie auch von diesen abhängig. Am prekärsten scheint die Gebundenheit des Werks an die Gunst derjenigen, gegen die es sich in seinem Untertitel wendet: Beuys’ Affront gegen die Stadtverwaltung war und ist auf diese angewiesen; selbst die Verwaldung muss verwaltet werden, um im alles überschattenden Klima des Administrativen überleben zu können. Nicht zuletzt dieser Widerspruch macht die Plastik zu einer sozialen.

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